Steuerberatung zwischen Fortschritt und Ausrede – Warum Digitalisierung keine Frage der Technik ist

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Die Branche im Spiegel – ein kritischer Blick auf Selbstverständnis und Realität

Die Steuerberatung gehört in Deutschland zu den formal bestregulierten, aber zugleich digital am langsamsten transformierten Branchen. Während andere Sektoren wie Logistik, Banken oder sogar der öffentliche Dienst teils radikale Digitalisierungswellen durchlaufen haben, wird in vielen Kanzleien immer noch mit Systemen gearbeitet, deren Grundlagen aus den 1990er Jahren stammen. Das Problem dabei ist nicht nur technischer Natur. Es ist vor allem ein kulturelles.

Denn wenn man ehrlich hinschaut, hat sich die Branche über Jahrzehnte hinweg in einer Komfortzone aus regulatorischer Stabilität, Monopolstrukturen und Mandantenabhängigkeit eingerichtet. Digitalisierung, so der unausgesprochene Tenor vieler Kanzleien, ist erst dann sinnvoll, wenn der Mandant mitzieht, die Software hundertprozentig funktioniert und gleichzeitig keine Mehrbelastung entsteht. Eine Haltung, die bequem ist – aber gefährlich.

Der Mythos vom nicht-digitalen Mandanten – ein bequemes Feindbild

Kaum ein Begriff wird in Steuerberaterkreisen häufiger als Ausrede genutzt wie dieser:
„Unsere Mandanten sind noch nicht so weit.“

Doch was heißt das genau? Ist der Mandant wirklich der begrenzende Faktor – oder nur ein willkommenes Argument, um die eigene Unsicherheit zu überdecken? Studien zeigen: Über 70% der unter 45-jährigen Unternehmer bevorzugen digitale Kommunikations- und Buchhaltungslösungen. Besonders Gründer:innen, Start-ups, E-Commerce-Unternehmen und selbst viele klassische Mittelständler sind längst offen für digitale Zusammenarbeit – sie erleben aber in der Praxis oft das Gegenteil.

Viele Steuerkanzleien bieten keine klare digitale Struktur, keine Anleitung, keine Prozesse, sondern nur Aussagen wie:
„Schicken Sie’s wie immer – wir kümmern uns dann.“
Damit zementiert man nicht nur die analoge Abhängigkeit, sondern verhindert aktiv, dass Digitalisierung beim Mandanten überhaupt entstehen kann.

Digitalisierung ist kein Add-on – sie ist struktureller Bestandteil moderner Steuerberatung

Der Fehler vieler Kanzleien liegt in der Grundannahme, Digitalisierung sei ein zusätzliches Werkzeug – etwas, das man „oben drauf“ packt, wenn der Alltag es erlaubt. Tatsächlich ist Digitalisierung aber eine infrastrukturelle Neuausrichtung, die tief in die Logik der täglichen Arbeit eingreift:

  • in die Art, wie Belege eingehen
  • in die Frage, welche Tätigkeiten automatisierbar sind
  • in die Rolle von Mitarbeitenden
  • in das Verständnis von Mandantenbeziehung
  • und nicht zuletzt: in das Geschäftsmodell

Eine digitalisierte Kanzlei denkt nicht nur in DATEV-Strukturen. Sie denkt in Workflows, Schnittstellen, Reaktionszeiten, Kanban-Boards und Serviceversprechen. Und sie fragt nicht: „Was geht technisch?“, sondern: „Was bringt unserem Team, unserem Mandanten und unserer Zukunft einen echten Vorteil?“

Drei strategische Fehleinschätzungen, die den digitalen Wandel blockieren

1. Digitalisierung ist ein IT-Thema.
Falsch. Digitalisierung ist ein Führungs- und Organisationsentwicklungsthema. Wer es auf Software und Hardware reduziert, verpasst 90 % des Potenzials.

2. Digitalisierung muss von DATEV ausgehen.
Irrtum. DATEV ist Platzhirsch, aber kein Innovationsführer. Die wirklich radikalen Tools entstehen aktuell in Startups, durch API-Konnektoren, OCR-Plattformen und Mandantenlösungen, die außerhalb des klassischen Kanzleiraums agieren.

3. Der Mandant wird sich von selbst anpassen.
Gefährlich. Der Mandant ist ein Kunde. Und Kunden orientieren sich an Nutzererfahrungen – wer als Kanzlei keine Struktur bietet, wird durch bessere Angebote ersetzt.

Technologische Infrastruktur ist nur ein Teil – Haltung ist entscheidend

Die beste Kanzleisoftware nützt nichts, wenn der Chef lieber PDFs ausdruckt. Die innovativste Belegerkennungs-KI bringt keinen Mehrwert, wenn die Kanzlei trotzdem alles manuell nacharbeitet – „um sicherzugehen“. Diese Beispiele sind keine Einzelphänomene. Sie sind Symptome eines strukturellen Problems:
Digitalisierung wird oft toleriert, aber nicht konsequent umgesetzt.

Dabei wäre es so einfach: Eine Kanzlei, die bereit ist, ihre interne Prozesslogik offenzulegen, zu analysieren und radikal zu vereinfachen, kann bereits mit drei Tools einen Quantensprung machen:

  • ein echtes Mandantenportal (nicht nur ein Upload-Ordner)
  • eine OCR-Vorerfassung mit Fehlerlernfunktion
  • ein digitales Teamboard zur Aufgabenverteilung

Der Unterschied liegt nicht in der Technik. Er liegt im Willen, alte Routinen zu verlassen.

Die gefährliche Illusion der Auslastung – warum viele Kanzleien den Wandel verschlafen

Viele Kanzleien sagen: „Wir haben keine Zeit für Digitalisierung – wir haben zu viel Arbeit.“
Diese Aussage ist das eigentliche Problem.

Denn wer heute zu 100 % ausgelastet ist, aber auf ineffizienten Strukturen arbeitet, wird morgen überlastet sein – ohne skalieren zu können. Digitalisierung ist nicht etwas, das man nachholt, wenn man Luft hat. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt noch Luft bekommt.

Besonders in Zeiten von Fachkräftemangel, steigendem Preis- und Erwartungsdruck sowie zunehmender Konkurrenz durch digitale Steuerplattformen (z. B. Kontist, Taxfix, Smartsteuer) ist die klassische Kanzlei nicht mehr unangreifbar.

Die Mandanten der Zukunft suchen keine Steuererklärer – sie suchen Businesspartner

Ein Unternehmer möchte heute:

  • keine Rückfragen zu falsch benannten Belegen
  • keine Wartezeiten bei Standardauswertungen
  • keine sieben Kommunikationskanäle ohne Struktur

Er will:

  • Prozessklarheit
  • Transparenz
  • Reaktionsgeschwindigkeit

Steuerberater:innen, die genau das bieten, werden nicht als Kostenfaktor gesehen, sondern als strategischer Vorteil. Und diese Wahrnehmung verändert alles: vom Preis bis zur Bindung.

Was Kanzleien jetzt konkret tun können – ohne gleich alles umzubauen

1. Mandanten klassifizieren:
Nicht jeder Mandant muss sofort digital sein. Aber man muss wissen, wo er steht – und wohin man ihn bringen will.

2. Digitales Onboarding schaffen:
Ein PDF, eine Videoreihe, eine Landingpage: Hauptsache, der Mandant weiß, wie er digital mit der Kanzlei arbeiten kann – und was er davon hat.

3. Klare Tool-Strategie definieren:
Zwei bis drei Systeme, die wirklich genutzt werden, sind besser als zehn Systeme, die niemand versteht.

4. Intern ein Digitalisierungsteam ernennen:
Nicht alles muss vom Inhaber kommen. Aber jemand muss verantwortlich sein – und Zeit dafür bekommen.

5. Mut zur Trennung:
Mandanten, die sich nicht entwickeln wollen, blockieren den Fortschritt. In manchen Fällen ist ein wertschätzender Abschied der professionellere Weg.

Steuerberater:innen haben mehr Macht, als sie denken

Die Branche verfügt über ein kaum genutztes Privileg: Sie sitzt an der Schnittstelle zwischen operativem Tagesgeschäft und strategischer Planung ihrer Mandanten. Wer diesen Vorteil erkennt und in digitale Kompetenz übersetzt, kann Beratung neu definieren – nicht als einmaliges Gespräch pro Jahr, sondern als kontinuierliche Schnittstelle zur Wertschöpfung.

Und wer in der eigenen Kanzlei zeigt, dass Digitalisierung nicht nur funktioniert, sondern auch Wert schafft, wird nicht nur attraktiv für Mandanten, sondern auch für junge Talente, die ein modernes Arbeitsumfeld suchen.

Warum Digitalisierung die Grundlage für echte Kanzleientwicklung ist

Digitalisierung ist nicht die Zukunft. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass Steuerberatung eine Zukunft hat.
Wer jetzt wartet, wird später nur noch reagieren können.
Wer jetzt gestaltet, kann eine neue Generation von Steuerberatung prägen – effizient, klar, strategisch.

Es ist Zeit, nicht mehr zu fragen, ob man digitalisieren sollte.
Sondern nur noch:
„Wie digital können wir heute schon sein – und was hindert uns noch daran?“

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